Island - wer denkt nicht sofort an Elfen, die Asen, die Edda und Fjorde? Mit diesen magischen Gedanken im Hinterkopf und dem Wissen, dass die Autorin zu den bekanntesten isländischen Literarinnen gehört, öffnet man voller Vorfreude den Roman und - wird gänzlich unmagisch auf den Boden der Tatsachen geholt.
Der Roman beginnt mit der Ankündigung am 15. April 1997: "Der Vorstand des Schauspielvereins Papavík beschließt, im kommenden Winter die <<Drei Schwestern>> von Anton Čechov aufzuführen. Sämtliche Rollen sind mit Männern zu besetzen."
In dieser Ankündigung steckt schon genug Material, um den Leser auf die nachfolgende Handlung einzustellen. Der Roman spielt in Island, im kleinen Ort Papavík, das gerne auch als "am Arsch der Welt" liegend bezeichnet wird, weil es außer malerischer Kulisse weit weg vom Schuss ist. Die Bewohner sind alle eine Gattung für sich, da keiner auch nur ansatzweise "normal" ist. Wir haben hier Schläger, chronische Schürzenjäger, selbstverliebte Laiendarsteller, Ehebrecher und Alkoholiker sind sie alle irgendwo.
Zu diesem Haufen gehört auch der nationale Unternehmermagnat Vatnar Jökull, der zu Ehren von Anton Pavlovič Čechov's 140. Geburtstag sein Stück "Die Schwestern" aufführen lassen möchte. Der Text wird besorgt, gelesen und in einer nächtlichen Inspiration erlangt Jökull die Einsicht, dass es nicht dieses Stück ist, welches ihm und dem Ort zu Ruhm gereichen soll, sondern stattdessen die Komödie "Der Kirschgarten". Von dieser Einsicht übermannt, beginnt das Chaos der nächsten 3 Jahre: Der Magnat will das Stück nicht im hiesigen Theater zeigen, sondern ein eigenes Theater, das Čechov würdig ist, muss erbaut werden. Voller Euphorie werden nun Stück für Stück die einzelnen Leute und Stadien durchlaufen und je weiter es geht, umso verrückter wird alles.
Das Theater wird zum "Gletschertheater" ernannt, eine neue Übersetzung muss her und die kann nur vom russischen Tippelbruder Vladi sein. Dumm nur, dass der sich gerade umbringen wollte. Hier muss dann die Soufflouse und Erzählerin des Romanes, Beatrís Mánadóttir, einspringen, die im Laufe der Handlung zwar gemäß ihrer Profession im Hintergrund steht und alles beobachtet, aber gleichzeitig immer und überall involviert ist. Sie bringt Vladi auf Kurs, verliebt sich nebenbei in den Architekten des Gletschertheaters, hält sich und den Leser über den örtlichen Klatsch und Tratsch auf dem Laufenden und so erfahren wir, wer mit wem was und wieviel trinkt, wer früher der Prostitution nachging, wer sich um welche Rolle im Stück bewirbt und was es mit der Homosexualität einiger Leute auf sich hat.
An der Stelle hebt der besorgte Leser die Hand und möchte einwerfen, ob derartig viele Irrungen und Wirrungen wirklich nötig sind und...Stopp! Der Leser soll nicht inhaltliche Stringenz beachten, sondern die Charktäre...nun, vielleicht doch irgendwo sympathisch finden? Belächeln? Schenkelklopfend als "tolle Typen" bejubeln? Nun, nichts Genaues weiß man nicht, lesen wir also weiter und schauen, was passiert...
Binnen drei Jahren wird das Stück also von der Ursprungsidee bis zur Öffnung des Vorhanges am 17. Januar 2000 präsentiert und was da geboten wird, ist gerade für uns deutsche Leser sicher erst einmal gewöhnungsbedürftig. Die Autorin des Romanes, Steinunn Sigurdardóttir, ist wie gesagt eine bekannte isländische Schriftstellerin, deren Werke auf den heimischen Bestsellerlisten standen und einen Sinn für Situationskomik, Charakterbeschreibung und satirischer Überspitzung kann und will ich ihr nicht absprechen, aber für mich stellte sich schnell die Frage, was der Roman rein inhaltlich noch mit Čechov zu tun hat. Rückblickend würde ich sagen, er bzw. sein Stück sind nur die Vehikel, die das grundlegende Thema darbieten, also die Theaterverrücktheit einiger isländischer Menschen zum Kochen bringen. Im Vordergrund stehen vielmehr diese seltsamen Leute, die bei aller Geduld und Offenheit einfach schwer verständlich sind und auch bleiben. Im Grunde haben wir alle menschlichen Typen im Roman: Die Schläger, den alten Lustgreis, die Betrogene, die Alkoholikerin, die Ehebrecher usw. Es sind Rollen, die sie alle verkörpern und spielen, wobei das aber nicht zu der von mir erhofften "Spiel im Spiel"-Struktur wurde, sondern wirklich einfach "nur" platte Darstellung ist. Ohne übertrieben moralisch klingen zu wollen, bleibt unterm Strich eigentlich nur der Eindruck hängen, alle Isländer scheinen schon morgens dem Alkohol zuzusprechen und trinken sich abends fast ins Koma. Es gibt wirklich kaum eine Seite in diesem Roman, wo der Alkohol nicht thematisiert oder zumindest in einem Nebensatz eingebaut wird. Aus heutiger Sicht müsste man fast die Frage stellen, ob der Roman seitens der Alkoholindustrie ein Sponsoring erfuhr?
Die Namen der Figuren werden gleich zu Beginn mittels humoresk-ironischer Note eingeführt, also Brandur Brandsson wird wegen seiner Blindheit zu Blindebrand, das Hausmädchen von Jökull bleibt das "Hausmädchen mit Abitur", Jökull selbst ist nur "der Gletsching" usw. Das hat den Effekt, dass man anfangs nicht wirklich weiß, wer wer ist, aber ab etwa 30 Seiten wird das besser und man gewöhnt sich an diese isländische Marotte. Gewisse lokale Anspielungen und Bräuche, wie ein ominöser Geist namens Lilli Spu - wann immer der auftaucht, muss laut "Du hast dich angeschissen" geschrien werden -, muss man unter "nationale Kuriositäten" abhaken, weil es sonst einfach unsinnig und lächerlich ist.
Die Grenze zwischen noch unterhaltsamer Situationskomik, merkwürdigen Schwänken und peinlichen Begebenheiten verwischt in "Gletschertheater" schnell, was vielleicht ganz gut ist, man hat mehr Zeit zu trinken und weniger nachzudenken.
An und für sich ist die Geschichte vom Thema her interessant, von der Struktur her hat sich die Autorin an einen 4-Akter gehalten und die einzelnen Kapitel sind in überschaubare 3-5 Seiten pro neuem Thema unterteilt, aber mir persönlich ist das eigentlich nur ein durchschnittlicher Schwank-Roman der burschikoseren Sorte. Čechov ist lediglich thematischer Namensgeber der Theatervorstellung, inhaltlich findet man keine Affinitäten; der Stil von Sigurdardóttir (bzw. die Übersetzung nach Coletta Bürling) ist einfach zu verstehen, aber die Feinheiten sind für Nicht-Isländer nur schwer verständlich und mir persönlich war es an vielen Stellen zu derb. Rohheiten sollten Sinn machen und nicht wie platte Versatzstücke wirken. Neben der eigentlichen Handlung - der Theareraufführung - gibt es zudem viel zu viele Einzelgeschichten und Einsprengsel. Man lernt die Figuren kennen, springt dann zum Theater, landet in der Natur, wieder beim abendlichen Trinken und dazwischen werden Fetzen des Lebens der Figuren eingebaut. Es ist chaotisch und nicht immer sinnig strukturiert, so dass ich selbst oft dachte, das Weiterlesen könne man sich sparen.
Nun gut, ich habe den Roman beendet, er war streckenweise lustig, aber für mich keine lesetechnische Magie, die ich unbedingt weiterempfehlen würde. Wer gerne skurille und ordinäre bis peinliche Gestalten mag, vielleicht selbst gerne das ein oder andere Gläschen trinkt und gerade keinen besseren Roman in Griffnähe hat, wird vielleicht seinen Spaß mit dem "Gletschertheater" haben. Allen anderen Lesern würden ich sagen, erwärmen wir uns am abschließenden Zitat und freuen uns auf den nächsten, besseren isländischen Roman:
"Eine harte, grausame Landschaft ist Island, an die sich das Leben in einer pathetischen Leidenschaft anklammert. Dem Isländer, in welche beliebige Richtung er auch sieht, bedeutet Island eine ununterbrochene Landschaft der Saga: jedes Bergtal, die Berge mit ihren Pässen, die Flüsse, die Lavafelder und Sande, sogar das Moor und die Heide, die Fjorde mit ihren Inselchen und nicht zu vergessen: alles ist mit der Saga verbunden, man bewegt sich im Sagaraum, das ganze Land bebt von der literarischen Überlieferung. Nach einem tausendjährigen Zusammenleben mit epischen Menschen ist die ganze Landschaft von Literatur durchdrungen." (Halldór Laxness)